Und
wenn das Kind nicht will?
Schon an der Sterilität der Schulgebäude ist zu
erkennen, daß uns das Wohl unserer Kinder nicht sehr
am Herzen liegen kann. Lehrpläne und Lehrmethoden sind
nicht kindgerecht, ebensowenig wie die Organisation des Lernens,
das zu stundenlangem Stillsitzen nötigt. Auf unterschiedliche
Begabungsformen wird zu wenig Rücksicht genommen. „Es
wird an der Zeit zu fragen: Was ist eigentlich für die
Kinder gut?“
Bildungspolitik macht die Rechnung ohne den Wirt. Diskutiert
wird über Rahmenbedingungen, anspruchsvolle Arbeitsmethoden
werden ersonnen, Maßnahmen zur Motivation erdacht und
tausende von Papierseiten bedruckt – alles um einer
Lernleistung willen, die dann das einzelne Schulkind erbringen
soll. Übersehen wird, daß sich das Kind auch auf
all das einlassen muß. Die Leistungsbereitschaft muß
aus dem Schüler selbst erwachsen. Kein finanzielles Förderprogramm
wird jemals in der Lage sein, auch nur ein einziges Kind zum
Lernen zu bewegen, wenn dieses nicht lernen will. Doch darauf
scheint es auch nicht anzukommen. So lange sich der Schulbetrieb
wirtschaftlich und machtpolitisch „rechnet“, spielt
alles andere keine Rolle.
Zwang
statt Freiwilligkeit
Schulpolitik kümmert sich wenig darum, ob an Schulen
Wissen und Bildung erfolgreich vermittelt werden kann. Sie
mißt Erfolg lediglich nach formalen und quantitativen,
nicht nach qualitativen Ergebnissen. Ihr Ziel ist die Akademisierung
der Gesellschaft. „Die Schule der Nation ist die Schule“,
sagte einst Willi Brandt. Was harmlos, ja sogar positiv klingt,
hat eine bedenkliche Dimension. Durch die Pädagogisierung
der gesamten Bevölkerung kommen die staatlichen Bildungsinstitutionen
und deren Funktionäre zu Macht und Ansehen.
Zur
Ausweitung dieser Machtansprüche propagiert man das „lebenslange
Lernen“. Der Mensch soll sich von der Wiege bis zur
Bahre der staatlich monopolisierten Bildungsindustrie unterwerfen.
„Lufthoheit über den Kinderbetten!“ –
„Senioren ans Netz!“. Bedrückend ist dies,
wenn Bildungsmaßnahmen nicht mehr durch Freiwilligkeit,
sondern auf Anordnung und Zwang geschehen. Dann nähern
wir uns auf bedenkliche Weise totalitären Systemen. Die
sogenannte Informationsgesellschaft mit ihrem staatlich gesteuerten,
theoretischen Weiterbildungszwang entwickelt unterdrückende
und vereinheitlichende Tendenzen, die wir nicht gutheißen
können. Schon ist die Moral im Spiel: Nur der unter staatlicher
Fuchtel „lernende“ Mensch ist ein „guter“
Mensch.
Die
Schule als Experimentierfeld staatlicher Bildungsplanung
Seit einigen Jahrzehnten ist die Schule das Experimentierfeld
der staatlichen Bildungsplaner und Interessenvertreter verschiedener
gesellschaftlicher Gruppierungen. Pausenlos werden neue Lehrmethoden
und -inhalte vorgeschrieben, deren unterrichtspraktische Auswirkungen
weder gründlich durchdacht noch gewissenhaft erprobt
worden sind. In immer rascherer Abfolge werden Schulen flächendeckend
angewiesen, pädagogische Moden in der täglichen
Schulpraxis zu etablieren.
Die
meisten der unausgegorenen Methoden stellen sich bereits nach
kurzer Zeit als untauglich heraus, werden jedoch weiter befolgt,
bis eine neue Modetorheit die alte ablöst. Ein kontinuierliches
Arbeiten auf dem Sockel traditioneller Erkenntnis ist nicht
mehr möglich – zum erstenmal in der Geschichte
der Pädagogik verwirft die junge Generation die fundierten
Erfahrungen der alten. Ja es entwickelt sich geradezu eine
Phopie vor dem „Alten“, wobei „alt“
gleichgesetzt wird mit „verdorben“, „untauglich“,
„überkommen“. Kennzeichen und Erfolg der
menschlichen Kultur ist jedoch gerade, daß Erfahrungen
durch die alte an die junge Generation weitergegeben werden,
damit diese nicht dazu verdammt ist, alle möglichen Irrtümer
sämtlich und immer aufs neue zu wiederholen. Eine Höherentwicklung
menschlicher Kultur ist nur auf der Basis von Tradition möglich.
Soll Unterricht gelingen, muß er sich auf allgemeingültige
und bewährte pädagogisch-methodisch-didaktische
Erkenntnisse stützen dürfen. Schule soll kein Experimentierfeld
sein für nimmermüde, profilierungssüchtige
Neuerer, die das Rad wegwerfen, um es unter eitlem Getöse
ständig neu zu erfinden.
Haltlosigkeit
durch Orientierungsverlust
Das Vertrauen der Schüler in persönliche und staatliche
Autoritäten ist durch die emanzipatorische und kritische
Erziehung zunehmend erschüttert worden. Schulbücher
und Lehrpläne enthalten ein überwiegend negatives
Menschen- und Weltbild. Teilweise verborgen und zwischen den
Zeilen vermittelt sich den Schülern eine Welt, die durch
und durch zu fürchten ist: Krieg, Umweltverschmutzung,
Elend, wirtschaftliche Not, soziale Ungerechtigkeiten, Hunger,
Korruption, Betrug, Unterdrückung, Rassenhaß und
so weiter und so fort. Gibt es denn in dieser Welt überhaupt
etwas Gutes? Etwas, an dem man sich aufrichten, auf das man
sich stützen könnte? Wie soll sich ein Heranwachsender
mit seinem Dasein identifizieren, wie soll er Vertrauen entwickeln,
wenn er von vornherein hauptsächlich mit dessen Schattenseiten
konfrontiert wird?
Es gibt doch auch die andere Seite: Sicherheit, Vertrauen,
Kameradschaft, Fürsorge, Liebe, Schönheit, Ehrlichkeit,
um einiges zu nennen. Unsere Lehrplan- und Schulbuchmacher
haben nicht verstanden, daß das kleine Kind nur dann
selbständig laufen lernen kann, wenn es zuerst von liebenden
Händen festgehalten wird und sich absolut sicher und
geborgen fühlen darf. Sie verstehen nicht, daß
nur teilen kann, wer zuvor ungeteilt und unbestritten hat
besitzen dürfen. Sie können oder wollen nicht begreifen,
daß Toleranz gegenüber Dritten nur dort entstehen
kann, wo zuerst das eigene Ich voll und ganz akzeptiert und
geliebt worden ist – ohne Zweifel, ohne Kritik, ohne
Unsicherheit. Die progressive Pädagogik beginnt mit dem
zweiten Schritt vor dem ersten. Sie meint, Sittlichkeit, Freude
und Frieden mittels Überredung – und wenn das nicht
hilft – Vorschrift und Zwang herstellen zu können.
Diese moralische Utopie muß immer wieder scheitern und
hat stets nur Unglück über die Menschen gebracht.
Wenn heute vielen Kindern das nötige Vertrauen ins Leben
fehlt, dann ist die negative Weltsicht der sich progressiv
nennenden Pädagogik eine Ursache dafür.
Karin
Pfeiffer-Stolz ist die Autorin zahlreicher Lernhilfen und
Kindergeschichten und eine entschiedene Gegnerin der staatlichen
Bildungsbürokratie sowie der staatlich verordneten Neuen
Rechtschreibung.
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