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Der Liberalismus ist sozial

Jacques de Guénin

Jacques de Guénin

Vortrag vom 14. September 2005 auf den Assises Libérales de Bretagne. Übersetzung aus dem Französischen von David Schah (25.10.05). Originaltext auf liberté-chérie.

Von der extremen Linken bis zu einem großen Teil der Rechten bezeichnen Franzosen sich als „sozial“ und antiliberal. Damit wollen sie sagen, dass sie sich für das Schicksal der Unterprivilegierten interessieren, während wir, die Liberalen, die wir das Individuum und die Marktwirtschaft, welche gerne auch das „Gesetz des Dschungels“ genannt wird, verteidigen, profitgierige Egoisten seien. Es ist jedoch offensichtlich, daß genau das Gegenteil der Fall ist: Wir sind die Großzügigen und sie die Raubtiere! Doch sie drängen uns immer wieder in die Defensive, indem sie sich auf dem Gebiet der Moral positionieren. Es wird höchste Zeit, daß wir zur Offensive übergehen und das moralischeTerrain besetzen.

Nun empfehle ich Ihnen gleich ein taktisches Mittel, mit dem Sie den Gegner destabilisieren können: Tun Sie unschuldig und fragen Sie ihn, was er denn unter Liberalismus verstehe. Es besteht eine sehr große Chance, daß er sich in Ungenauigkeiten verstrickt. Sagen Sie ihm nun, daß Sie nicht überrascht sind, daß er den Liberalismus nicht mag, da er offenbar nicht genau wisse, was Liberalismus sei. Denn im Gegensatz zu dem, was er glaubt oder zu glauben vorgibt, sind diejenigen Gesellschaften, welche die liberale Moral beherzigt haben, zu allen Zeiten und überall die wohlhabendsten, tolerantesten, offensten und humansten Gesellschaften gewesen.

Danach können Sie Ihren Gegner nach Belieben niederringen mit den Waffen, die ich Ihnen nun geben werde. Viele Leute sehen im Liberalismus lediglich eine ökonomische Doktrin, andere sehe darin auch eine politische Lehre. In Wirklichkeit ist der Liberalismus jedoch vor allem eine individuelle Moral, des weiteren eine von dieser Moral abgeleitete Philosophie des Lebens in der Gesellschaft und schließlich eine ökonomische Lehre, die sich logisch aus dieser Moral und dieser Philosophie ergibt.

Der Liberalismus beruht auf zwei moralischen Prinzipien: Freiheit und individuelle Verantwortung.

Verantwortung zu tragen heißt, daß man selbst für die Folgen seines Tuns einsteht. Das ist ein Prinzip des Lernens über Versuch und Selbstvervollkommnung. Die individuelle Freiheit ist für den Liberalen nicht etwa meine kleine egoistische Freiheit, sondern die Freiheit aller. Sie bedeutet eben nicht, daß ich alles tun kann, was ich will, ohne mich um die anderen zu kümmern, denn dann würde ich ja die Freiheit anderer Menschen einzuschränken drohen. Wenn ich mich etwa so sehr einer Droge hingebe, daß ich mein eigenes Leben nicht mehr leben kann, werde ich zur Last für die anderen.

Dieses Prinzip ist auf bemerkenswerte Weise im Artikel 4 der berühmten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ausgedrückt, in der es heißt: Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was anderen nicht schadet. Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat also keine Grenzen außer denen, die darin bestehen, den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuß der selben Rechte zu sichern. Nebenbei bemerkt ist diese berühmte Erklärung das Werk von Liberalen. Wie Sie wissen, haben die Jakobiner, also die Sozialkommunisten ihrer Zeit, sich darüber hinweggesetzt und den Terror errichtet.

Die Konzepte von Freiheit und Verantwortung sind nicht unabhängig voneinander und können nicht ohne einander existieren. In der Tat kann man nicht verantwortlich für seine Taten sein, wenn man nicht frei war, sie zu begehen. Und umgekehrt muss man, wenn man die Freiheit anderer respektiert, auch selbst die Folgen seiner eigener Taten annehmen.

Um seinen Lebensunterhalt zu sichern, muß der Mensch, indem er sich anstrengt und seinen Verstand benutzt, Güter produzieren, die er verbrauchen, horten oder gegen andere Güter oder Dienstleistungen austauschen kann. Derjenige, der nicht mit dem Recht ausgestattet ist, diese Anstrengungen zu unternehmen, hat nicht die Gewißheit, seinen Lebensunterhalt auf die von ihm gewünschte Art zu sichern. Der Mensch, der etwas produziert, worüber andere per Zwang verfügen, ist ein Sklave. Also ist derjenige, der etwas produziert, wovon ihm der Staat die Hälfte abnimmt, ein Halbsklave. Das durch Arbeit und Verstand erworbene Eigentum ist also eine unerlässliche Bedingung für die Ausübung von Freiheit.

Derjenige, der produziert und tauscht, verdient das, was er verbraucht. Er nimmt anderen nichts weg. Er erwartet nicht, daß er für sein Wehklagen oder für das passive Aussprechen seiner Bedürfnisse entlohnt wird, sondern für das, was er geschaffen und hervorgebracht hat. Hingegen steht durch Gewalt, Diebstahl oder Betrug angeeignetes Eigentum im völligen Gegensatz zur liberalen Moral. Wenn man möchte, dass jeder Mensch Freiheit genießt, darf man von anderen etwas nicht durch Zwang, sondern nur durch deren Zustimmung erhalten.

Das Individuum kann diejenigen Güter oder Dienste, die es nicht selbst herstellen kann, durch einen Austausch erwerben. Der Austausch vollzieht sich mit einem anderen Individuum oder mit einem Unternehmen, zum Beispiel Arbeit gegen Gehalt. Wenn der Austausch freiwillig ist, finden beiden Seiten ihre Befriedigung darin, denn ohne diese würden sie den Tausch nicht vornehmen. Und niemand Dritter wird dadurch geschädigt.

Tausche begünstigen friedliche Beziehungen zwischen den Menschen und tragen zur moralischen Untermauerung dieser Beziehungen bei. Denn Tausche müssen, um effizient zu sein, die Lüge ausschließen. Man stellt schnell fest, daß in liberalen Gesellschaften Vertrauen herrscht. Diejenigen, die das Vertrauen mißbrauchen, laden Schande auf sich. Wer sich davon überzeugen möchte, dem sei die Lektüre des wichtigen Buches von Alain Peyrefitte „La Société de Confiance“ (Die Vertrauensgesellschaft) empfohlen.

Der Mensch wird desto bessere Resultate erzielen, je mehr er sich anstrengt und je besser er sich seines Verstandes bedient. Dies ist die einzige Quelle der Ungleichheit, die sich mit der liberalen Moral verträgt. Die liberale Moral duldet keine Ungleichheit vor dem Gesetz, in welchen Formen auch immer sie auftritt – Sklaverei, Kasten, Privilegien – denn diese Ungleichheiten entstehen durch Zwang, der meistens durch die Staatsmacht ausgeübt wird. Man sollte die folgende historische Tatsache verinnerlichen: In Frankreich ist die Sklaverei das erste Mal 1794 nach dem unermüdlichen Druck der Liberalen Condorcet, Abbé Grégoire und La Fayette abgeschafft worden. Nachdem sie von Napoleon wiedereingeführt worden war, wurde sie 1848 wiederum durch die unermüdlichen Bemühungen anderer Liberaler abgeschafft, wobei vor allem Tocqueville, Montalembert und Viktor Schoelcher zu nennen sind.

Die freiwilligen Interaktionen mit anderen erlauben es dem Individuum, seine Effizienz bei der Suche nach dem Glück durch den Einsatz von Arbeit und Verstand in beträchtlichem Umfang zu verbessern. Zunächst einmal erlaubt der Vergleich seiner eigenen Ergebnisse mit denen anderer einen Fortschritt – vorausgesetzt, daß das Urteil nicht durch Neid getrübt ist – eine Todsünde für den Christen, aber der Aktionsmotor für die Sozialisten.

Die individuelle Suche nach dem Glück durch Arbeit und Verstand gebiert überaus positive Folgen für die anderen. Wenn er frei ist, kann der Mensch sich neue Wege ausdenken. Dadurch bereichert er auch die anderen. Die meisten Menschen verbrauchen nur etwas weniger als den Gegenwert dessen, was sie produzieren. Aber der Mensch, der eine Idee oder eine Erfindung produziert, erhält nur einen geringen Bruchteil des Wertes dessen zurück, was er der Menschheit vermacht hat und wovon eine unbegrenzte Anzahl von Menschen profitieren wird.

Wenn es keine Behörde gibt, die ihm seine Auswahl diktiert, kann der Mensch die Arbeit wählen, die er bevorzugt, er kann sich bei dieser Arbeit spezialisieren und auf seinem Erfolgsweg so weit gehen, wie es sein Wille und sein Talent erlauben. Es gibt dafür aber eine Bedingung: Diese Arbeit muss auch für andere interessant sein. Diesen Punkt verstehen all diejenigen nicht, die denken, dass die Gesellschaft ihnen die Art von Arbeit geben muß, die sie anstreben, auch wenn bereits sehr viele Menschen diese Arbeit verrichten. Ein Unternehmen etwa geht unter, wenn es nicht sicherstellen kann, dass es seinen Kunden das bietet, was diese nachfragen. Selbst das größte Unternehmen verliert seine Kraft und seinen Einfluß, wenn es Kunden verliert. Der Profit geht also nur an denjenigen, der verstanden hat, was die anderen wollen. Das gilt allerdingst nicht für die Aktivitäten des Staates, deren Mißerfolge keinerlei Sanktionen nach sich ziehen.

Die Theorien der Linken und Pseudorechten über das Unternehmertum, die normalerweise von Leuten erdacht und propagiert werden, die selbst nie einen Fuß in ein Unternehmen gesetzt haben, gehen von der Idee aus, dass es einen unüberbrückbaren Interessengegensatz zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gibt. Nichts ist so abwegig wie diese These, zumindest in einem freien Markt. Denn in einem freien Markt gibt es keine Dauerarbeitslosigkeit, denn die Arbeitgeber stehen dann miteinander im Wettbewerb um die besten Arbeitskräfte. Und auch bei einem bestehenden Arbeitsverhältnis wissen die weisen Arbeitgeber, die anstelle eines kurzfristigen Profitstrebens eher an die Beständigkeit ihres Unternehmens denken, daß es keine leistungsfähigeren Arbeiter gibt, als jene, die sich wohl fühlen. Die größte Sorge eines jeden guten Unternehmers ist die, daß sich seine Mitarbeiter wohl fühlen. Das ist recht schwierig zu bewerkstelligen, denn jeder von uns denkt gern, dass seine Verdienste nie genügend anerkannt werden, und die Gewerkschaften ermutigen uns dazu, dies zu denken. In einem Privatunternehmen gelingt das Wohlergehen der Mitarbeiter oft dennoch, da es hier meist nicht mehr als 5% Gewerkschaftsmitglieder gibt und es nicht selten der Fall ist, dass selbst diese Gewerkschaftler beim Unternehmen diskret um einen Arbeitsplatz für ihre Kinder ersuchen. Natürlich gibt es auch schlechte Firmenchefs, jedoch ist deren Anzahl weitaus geringer, als man durch Kino oder Presse – hier sind zu 80% Sozialisten am Werke – zu glauben versucht ist. Und wenn es so wenig schlechte Chefs gibt, dann hat das einen einfachen Grund: Schlechte Unternehmer überleben meistens nicht lange. Ich habe einmal in den Archiven der Peugeot-Gruppe ein kleines Buch aus dem Jahre 1894 mit dem Titel „Arbeitgebereinrichtungen des Hauses der Les Fils de Peugeot Frères“ gefunden. Dieses Buch war also mehr als ein Jahrhundert alt. Es enthielt auf sehr klare und lesbare Art eine Aufstellung über die Auszahlungen diverser firmeneigener Einrichtungen:

- Eine Pensionskasse
- zwei Versicherungen zur gegenseitigen Hilfe (davon eine durch die Fabrik)
- zwei Versicherungen zur gegenseitigen Hilfe im Todesfall
- eine Unfallversicherungskasse
- Arbeiterunterkünfte
- drei Schulen
- zwei Arbeitervereine
- ein Krankenhaus

Vergeblich habe ich in unseren totalitären Sozialversicherungen nach Vergünstigungen gesucht, die nicht bereits damals die Angestellten von Peugeot hatten. Dafür habe ich drei Vorteile gefunden, welche die damaligen Angestellten gegenüber den heutigen hatten:

- ihre Beteiligung an diesen Diensten betrug nur 5,5% des Lohns, der Rest wurde vom Unternehmen getragen
- obwohl der Arbeitgeberanteil höher war, war die Leitung paritätisch
- alle Angestellten erhielten dieses kleine klare, gut lesbare und präzise Buch

Und dieses Buch endete mit den folgenden Worten:

„Die Arbeiter des Hauses ‚ Les Fils de Peugeot frères‘ sind nie in Streik getreten und es herrschte stets eine vollkommene Eintracht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Eine große Anzahl Familien ist in den Werken bereits seit drei Generationen beschäftigt.“

Ich habe dann herausgefunden, daß die Peugeot in dieser Hinsicht nicht die einzige Firma war. Weitere große Industriellenfamilien, vor allem Michelin, hatten ähnliche Einrichtungen. Diese historischen Tatsachen sind durch die linke Propaganda in Vergessenheit geraten, wo man diese Firmenpraxis mit dem Wort „Paternalismus“ lächerlich gemacht hat.

Ich möchte mich nicht so lange über jede einzelne soziale Errungenschaft des Liberalismus ausbreiten, da dies viel Zeit und Platz beanspruchen würde. Daher begnüge ich mich mit einer kurzen Zusammenfassung:

Schon 1803 prangerte Jean-Baptiste Say stereotype Arbeitsweisen an. Er dachte, dass man den Arbeitern mehr Initiative überlassen sollte und machte sich daher zum Apostel einer Grundbildung für Arbeiter, was später von den Liberalen verteidigt wurde, während es von den Marxisten wie Jules Guesde abgelehnt wurde. Letzterer sah darin nur eine Methode, mit welcher die Kapitalisten sich rentablere Arbeitskräfte verschaffen konnten.

Das Gesetz vom 28. März 1841, das ein Arbeitsverbot für Kinder unter 8 Jahren vorsah sowie die Arbeit für Kinder zwischen 8 und 12 Jahren einschränkte, wurde von den Liberalen unter Charles Dupin eingebracht.

In der Nationalversammlung brachte Frédéric Bastiat am 17. November 1849 in einer wohldokumentierten und bewegenden Rede einen Gesetzesvorschlag ein, der die Bildung von Arbeitervereinen und gewaltfreien Streiks erlaubte. Er wurde indes nicht gehört.

Erst mit dem Gesetz von 1864 wurde das Streikrecht anerkannt. Dieses Gesetz wurde von Napoloen III unter dem Einfluß des Liberalen Emile Ollivier , des Premier- und Justizministers, verabschiedet. Man mußte noch zwanzig weitere Jahre warten, bis Gewerkschaften erlaubt wurden. Ein enstsprechendes Gesetz war 1876 vom liberalen Abgeordneten Edouard Lockroy eingebracht worden, wurde aber acht Jahre lang von den Sozialisten blockiert. Durch den Druck des liberalen Innenministers Waldeck Rousseau wurde es schließlich am 21. März 1884 ratifiziert. Als Waldeck Rousseau es aber 1900 und 1901 ausweiten wollte, indem er den Gewerkschaften die Zivilrechte verleihen wollte, stieß er auf den Widerstand der Sozialisten.

Am 2. Juli 1906 brachte der liberale Abgeordnete Gaston Doumergue eine Gesetzesinitiative ein, welche die convention collective (freie Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden) erlauben sollte. Auf ihrem Kongress ergriff die Gewerkschaft CGT (Confédération générale du travail) dagegen Partei.

Seit 1908 war es wieder den Impulsen der Liberalen zu verdanken, dass die ersten Sparkassen gegründet wurden. Da diese privat geführt wurden, ernteten sie bei den Sozialisten nur sarkastische Bemerkungen.

Auch die Sozialisten geben vor, moralisch motiviert zu sein. Doch es gibt einen immensen Unterschied zwischen ihrer und unserer Moral. Die liberale Moral richtet sich wie auch die christliche Moral, mit der es große Schnittmengen gibt, an das Individuum. Es wendet sich an das Individuum, um ihm die Verantwortung für dessen Taten aufzuerlegen und ihn somit dazu bringen, die Freiheit seiner Nächsten zu sichern. Die sozialistische Moral proklamiert natürlich auch, daß sie das Wohl des Individuums im Sinn hat, aber sie will dieses Wohl ausschließlich durch die Vermittlung des Staates und seiner Gesetze etablieren, also durch Zwang. Der Sozialismus und seine Avatare definieren dieses Wohl a priori, sie stülpen es ihren Bürgern wie Kindern durch erzieherische Bevormundung auf und sie setzen es durch staatliche Führung in Bezug auf alle menschliche Aktivitäten durch.

Dieser Staatskult durch Leute, zu denen viele Intellektuelle gehören, also Leute, die eigentlich rechnen, beobachten und analysieren können, hat mich immer wieder in Staunen versetzt. Ich gestehe gerne zu, daß man über eine gute Kenntnis ökonomischer Zusammenhänge verfügen muß – welche von unserer staatlichen Bildung mitnichten vermittelt wird –, um alles Üble zu verstehen, was der Staat der Wirtschaft antut. Auf sozialer Ebene, und darum geht es hier, muß man aber kein Gelehrter sein um festzustellen, daß alle Schrecken, die man in der Gegenwart und in den Geschichtsbüchern findet, staatsgemacht sind: Kriege, Massaker, Deportationen, Zerstörungen, Schauprozesse, willkürliche Verhaftungen, Folter, Hungersnöte, Verfolgungen und Konfiszierungen. In jedem Jahrhundert und an zahllosen Schauplätzen endet der Staatskult in den gleichen abscheulichen Verirrungen wie dem Terror in Frankreich, dem Nationalsozialismus in Deutschland und den systematischen Vernichtungen in der Sowjetunion.

Liberale sind sich dieser Tatsachen bewußt, und deswegen haben sie stets die Macht des Staates zu beschneiden versucht. Es sind die Liberalen, welche das Prinzip der Gewaltenteilung erfunden haben, das so schwer in die Tat umzusetzen ist, selbst in unserer alten Demokratie. Es sind die Liberalen, welche die Deklaration der Menschenrechte 1789 vorgenommen haben, um das Individuum vor dem Staat zu schützen.

Doch der Liberale ist sich auch dessen bewußt, daß der Mensch Güter sowohl durch Arbeit und Verstand, als auch auf Kosten anderer durch Trickserei oder Gewalt erlangen kann. Der Liberale akzeptiert daher als geringstes Übel eine Autorität, deren Bestimmung es einzig und allein ist, den Respekt vor den Rechten des Individuums sicherzustellen. In der Praxis bedeutet dies einen begrenzten Staat, dessen einzige Funktionen die Justiz, das Polizeiwesen und die nationale Verteidigung sind, wozu auch die Diplomatie gehört. Alle anderen Funktionen werden viel besser durch die freie Übereinkunft von Individuen bewerkstelligt.

Die zwei Konzepte der sozialistischen Moral, von denen am meisten gesprochen wird, sind Gleichheit und Solidarität. Ich möchte Ihnen zeigen, inwiefern diese Ideale durch die Mechanismen des Sozialismus pervertiert worden sind.

Gleichheit: Der Liberale bekämpft wirklich ungerechte Ungleichheiten, nämlich solche, von denen Politiker und Funktionäre profitieren, solche, die aus Diebstahl und Zwang resultieren und die oft vom Staat selbst herrühren, oder auch vom Umstand, daß der Staat seine eigentlichen Aufgaben nicht erfüllt. Der Sozialist dagegen strebt eine Ergebnisgleichheit an, was dazu führt, daß in diesem Land alles getan wird, um zum Nichtstun zu ermutigen und um denjenigen, die etwas unternehmen, Steine in den Weg zu legen. Daher ist auch die staatliche Bildung, nachdem sie es nicht geschafft hat, die Ergebnisse ihrer Schäfchen auf hohem Niveau gleich zu machen, dazu übergegangen, sie wenigstens auf unterster Ebene zu nivellieren. Ist es aber nicht zutiefst ungerecht, den Faulen auf gleiche Art zu belohnen wie den Fleißigen, denjenigen, der ins Blaue hinein agiert genau so wie den überlegt Vorgehenden?

Solidarität: Für den Liberalen sind die Solidarität und die Zuwendung gegenüber seinen Nächsten individuelle Tugenden, die persönlich oder vermittels freiwilliger Zusammenschlüsse ausgeübt werden. Es ist die Solidarität, die sich zum Beispiel in kleinen Gemeinden, Städten, Vierteln, Arbeitsplätzen oder innerhalb von Freundeskreisen zeigt. Ein Blick auf die Historie der Unterstützung für die Armen zeigt, daß diese, im Verhältnis zum mittleren Lebensstandard, viel höher war, als sie sich noch im privaten Rahmen abspielte. Nun könnte man daran zweifeln, daß diese private Hilfe genauso auf die wirklichen Bedürfnisse von Individuen zugeschnitten war und dass sie weniger Raum für Verschwendung und Korruption bot. Hierzu möchte ich einige Zeilen von Frédéric Bastiat aus dem Jahre 1848 über die damaligen Vereine zur gegenseitigen Hilfe anführen:

„Die Vereine zur gegenseitigen Hilfe sind eine bewundernswerte Einrichtung, die aus der Triebkraft der Menschlichkeit entstanden, lange bevor es überhaupt das Wort Sozialismus gab. Es ist schwer zu sagen, wer der Erfinder dieser Einrichtungen war. Fest steht jedoch, dass ich solche Vereine vor etwa zwanzig Jahren spontan bei den mittellosesten Arbeitern und Handwerkern entstehen sah sowie in den ärmsten Dörfern der Departements in den ‚Landes‘.

An allen Orten, wo sie bestanden, haben sie enorm viel Gutes bewirkt. Die Mitglieder haben ihre gegenseitige Abhängigkeit und den Nutzen, den sie voneinander haben, wohl gespürt und haben verstanden, inwiefern sich das Wohl- und Übelergehen jedes Individuums und jedes Berufs auch auf das Wohl und Übel der Gemeinschaft auswirkt. Und das, was das Erfolgsrezept dieser Vereine ausmacht, ist das, was für alle Massen gilt: Freiwilligkeit und Freiheit.

Die natürliche Klippe ist dort, wo Verantwortung verlagert wird. Es kann niemals ohne große Gefahren für die Zukunft und ohne große Schwierigkeiten vonstatten gehen, wenn man das Individuum von den Folgen seiner eigenen Taten abkoppelt. Bald würde der Tag kommen, wo alle Bürger sagen: „Wir mühen uns nur ab, um denjenigen zu helfen, die nicht arbeiten wollen oder können.“ Es wäre dann zu befürchten, dass sich die natürliche Neigung des Menschen zur Trägheit bis zu einem bedenklichen Punkt entwickeln würde und dass die Arbeitsamen sich bald als die Betrogenen der Faulen fühlen würden. Gegenseitige Hilfe impliziert also eine gegenseitigen Kontrolle, ohne welche der Hilfstopf schnell leer wäre. Diese gegenseitige Kontrolle ist für einen Verein eine Existenzgarantie und bietet jedem Mitglied die Sicherheit, daß es nicht die Rolle des Betrogenen spielt, ist also ein Grundstein für die Moral in einem solchen Verein. Dank dieser Kontrolle verschwinden Faulenzertum und Verschwendung, denn welches Recht hätte jemand auf Unterstützung aus der Gemeinschaft, der sich nachweislich aus freien Stücken, also durch eigenes Verschulden, Krankheit und Arbeitslosigkeit mitsamt den daraus resultierenden lasterhaften Gewohnheiten aussetzt? Es ist diese Kontrolle, welche die Verantwortung wiederherstellt, welche sich durch das Wesen des Vereins selbst ansonsten abzuschwächen droht.

Doch damit diese Kontrolel stattfindet und Früchte trägt, müssen diese Hilfsvereine freiwillig und in ihrem Umfang begrenzt sein, sie müssen Herren ihrer Statute und ihrer Einlagen sein. Sie müssen ihre Regeln an die Anfordernisse einer jeden Umgebung anpassen dürfen.“

So verstehen Liberale die Solidarität, doch die Sozialisten taufen dies „Barmherzigkeit“, indem sie dieses Konzept ins Lächerliche ziehen, so wie sie den Paternalismus verhöhnt haben. Für sie bedeutet Solidarität eine staatliche Umverteilung von Geldern ihrer Bürger. Darin steckt offensichtlich keinerlei moralischer Wert, doch verschafft es ein gutes Gewissen. Denn warum soll man seinem Nächsten auch direkt helfen, da man doch schon den Staat dafür bezahlt hat?

In der Praxis tötet der Staat also das Mitleid. Doch diese falsche Solidarität erlaubt es den Machthabern, sich zu entfalten. In der Realität ist diese Art von Solidarität zu einem äußerst feinmaschigen und komplexen Spinnennetz geworden, das niemand mehr beherrscht und das folglich alle Arten von Ungerechtigkeiten, Verschwendung und Korruption zulässt. Das gilt umso mehr, wenn diese Pseudosolidarität von Staaten durch die Vermittlung anderer Staaten ausgeübt wird. Daß solche Selbstverständlichkeiten erst in Erinnerung gerufen werden müssen, zeugt vom Grad der Durchdringung sozialistischen Gedankenguts.

Der Liberalismus interessiert sich also mehr für das Individuum als für die Gesellschaft. Er geht davon aus, daß die Gesellschaft lediglich eine Ansammlung von freien und selbstverantwortlichen Individuen ist und daß alles, was jemand für seinen Nächsten tut, freiwillig geschehen sollte, motiviert durch Verstand oder Neigung.

Die Sozialisten mit all ihren Abarten dagegen stellen die Gesellschaft über das Individuum. Für sie ist das Individuum eine Art Opfertier, das gegenüber der Gesellschaft nichts zählt. Sie sehen die Gesellschaft als eine Art lebendiges Wesen, deren einzelne Elemente selbst abstrakt und ohne Bedeutung sind.

Was Machtmenschen angeht, ob sie nun von links oder rechts kommen, so geben sie sich selbst die Aufgabe, die Gesellschaft zu dirigieren. Jede individuelle Aktion ist für sie potenziell abweichend und von daher gefährlich. Doch da man ohne ein Minimum an moralischer Autorität weder überzeugen noch dirigieren kann, haben die sozialistischen Intellektuellen und die Machthaber, die über eine ausgesprochene Raubtiermentalität verfügen, die Moral gekapert, so wie sie auch alles andere an sich gerissen haben. Ihre Methode ist simpel: Es reicht aus, jedes Individuum als egoistisch zu beschimpfen, das selbst zu denken wagt, jedes Individuum auszubeuten, das unternehmerisch tätig wird, und zum Volksfeind jedes Individuum zu erklären, das seine eigenen Interessen über die Interessen des Staates stellt. Sie geben vor, daß nur sie über die Tugenden Altruismus und Solidarität verfügen.

Solange Sie dies nicht verinnerlichen, werden Sie der Gnade der sozialistischen Intellektuellen und der Machthaber jeglicher Couleur ausgeliefert sein. Wenn wir, die Liberalen, aus dem Ghetto, in dem wir uns befinden, ausbrechen wollen, müssen wir auf dem Gebiet der Moral kämpfen. Wir müssen die Moral zurückgewinnen, die man uns gestohlen hat. Die Liberalen lieben ökonomische Betrachtungen und verachten den politischen Kampf. Ökonomische Betrachtungen langweilen aber die meisten Leute. Doch sehr viele Menschen sind bereit, für moralische Prinzipien zu kämpfen, ja zu sterben.

Diese Prinzipien sind universell. Es sind dies jene vier Prinzipien des Dekalogs, die das Leben in der Gesellschaft betreffen: Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen und du sollst nicht das Eigentum deines Nächsten begehren. Dem kann man noch das folgende Prinzip aus dem Neuen Testament hinzufügen: „Liebet und respektiert Euren Nächsten – von Individuum zu Individuum.“ – ich formuliere es auf meine Art, aber ich respektiere die ursprüngliche Bedeutung dieses Prinzips. Der Kommunist indes tötet, alle Regierungen stehlen und lügen, die Taten aller Sozialisten beruhen auf Neid, und all diese Leute verwechseln Nächstenliebe mit Wohltaten, die man dieser oder jener Wählergruppe gewährt.

Ich hoffe, daß ich Ihnen gezeigt habe, daß es die echten Liberalen sind, welche die moralischen Prinzipien unserer christlichen Zivilisation respektieren.

Jacques de Guénin ist Präsident des Cercle Frédéric Bastiat

 

 



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Herausgeber:
Libertäres Institut Bonn

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